Diese Farm versorgt sich selbst
2020
Von Nana Demand Bahlmann
Seit Alexander Paynes Weinverkostungs-Roadmovie «Sideways» von 2004 erlebte das Städtchen Santa Ynez einen Tourismusboom. Inzwischen ziehen sich gutbetuchte Angelenos (so nennen sich Menschen, die in Los Angeles wohnen) als Hobby-Weinbauern und Reitsportler in das beschauliche Tal zurück. Hier, ungefähr zweieinhalb Autostunden nördlich von Los Angeles und etwas landeinwärts der Pazifikküste gelegen, lässt sich das Leben nach typischer kalifornischer Lebensart geniessen.
Es geht aber auch anders. So wie bei dem amerikanisch-schweizerischen Architektenteam Sarah Graham und Marc Angélil. Als sie hinter die sonnige Kulisse blickten und die persönlichen Schicksale der ebenfalls hier niedergelassenen Migranten kennenlernten, änderten sie die Pläne für ihren Alterswohnsitz.
Diverse architektonische Retrostile prägen die Umgebung. Ranches, Farmen und Weingüter im Stil mediterraner Villen oder spanischer Haziendas, eine ganze Kleinstadt voll dänischer Fachwerkhäuschen und Windräder, opulente Landhotels im Pseudo-Tudorstil. Selbst Michael Jacksons berüchtigte Neverland-Ranch, eine kitschige Disney-Schloss-Phantasie, ist nur eine gute Viertelstunde von Santa Ynez entfernt, genauso wie Ronald Reagans «Rancho del Cielo», die zu Zeiten seiner Präsidentschaft als «Western White House» fungierte, wo er Gäste wie Königin Elizabeth II. oder Michail Gorbatschow empfing.
Die exquisiten Boutiquen und Restaurants im pittoresken Städtchen heissen «Tumbleweed», «Back at the Ranch» oder einfach «Generalstore» und verkaufen Lavendelseifen, Thymian-Badesalze oder Duftkerzen zu überteuerten Preisen. Auch zu finden: weite Leinenkleider in Erdfarben, zierliche Lederpantoffeln, rustikale Pferdedecken fürs Heim-Dekor, fransige Cashmere-Ponchos und Bandanas in minimalistischem Design – ehemals waren das Halstücher gegen den Wüstenstaub für echte Cowboys, jetzt sind sie auch als stilsicherer Mund-Nasen-Schutz verwendbar. Was hier vermarktet wird, ist der Lifestyle Südkaliforniens, wie er im Bilderbuch steht, oder besser: bei Instagram gepostet wird. Ein eklektischer Mix aus Western-Stil und Hippie-Chic.
Moderne Werte, inklusive sozialer Gerechtigkeit
In dieser gentrifizierten Landschaft also, inmitten typisch amerikanischer «McMansions», entwarfen nun die Architekten Sarah Graham und Marc Angélil eine Ranch. Seit dem ersten gemeinsam erdachten Wohnhaus, dem sogenannten Hollywood House in Los Angeles, erregte die Arbeit ihrer in Zürich und Los Angeles niedergelassenen Firma «agps architecture» immer wieder Aufsehen, auch mit städtebaulichen Entwürfen wie dem Gestaltungsplan Zollstrasse hinter dem Zürcher Hauptbahnhof. Angélil, ehemals Vorsteher des Architektur-Departements und langjähriger Professor der ETH Zürich, wurde letztes Jahr emeritiert, zur Ruhe gekommen ist er aber längst nicht.
Entlang der Refugio Road entfaltet sich, vor allem stadtauswärts, eine wohlsituierte, inszenierte Gemütlichkeit. Doch wer vom amerikanisch-schweizerischen Paar einen prätentiösen Alterssitz in ländlichem Umfeld erwartet: weit gefehlt! Schon äusserlich hebt sich die 2019 fertiggestellte «Refugio Road Ranch» sichtlich von ihrer Umgebung ab. So sehr sogar, dass die Lokalzeitung einen Artikel über das Gebäude ablehnte, weil es «nicht wie ein Haus aussehe». Kein Ornament, kein Retrokitsch, keine Romantik, sondern vielmehr das, wofür die Moderne sich einst eingesetzt hatte, inklusive der Anliegen der sozialen Gerechtigkeit und des naturnahen Lebens.
Als die Architektin und Pferdeliebhaberin Graham sich 2014 in der Gegend um Santa Ynez umschaute, war sie eigentlich auf der Suche nach einem Baugrundstück für ein eigenes Heim im Grünen. Sie wurde fündig: ein malerisches Stück Land mit knorrigen Eichen inmitten von Weingärten. In der Ferne rahmen impressionistisch hingetupfte Hügel den weiten Horizont. Eine idyllische, verlassene Pferderanch mit ein paar Überbleibseln, kreuz und quer verstreuten Stallungen, Schuppen und Scheunen.
Doch das Grundstück kam mit unerwarteten Extras: zwei Mobilheime direkt am Eingang. Die genormten Flachdachboxen, die aussehen wie schmale Schuhkartons mit winzigen Fenstern, kosten gerade so viel wie ein Kleinwagen, werden in amerikanischen Fabriken in Massen produziert und landesweit auf Schwertransportern ausgefahren. Sie dienen Menschen, die unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen leben, als oft einzig erschwingliche Unterkünfte. Die beiden Wohnwagen waren das Zuhause von zwei mexikanischen Einwanderern, die schon früher als Agrararbeiter auf der Ranch tätig gewesen waren. Hier lebten sie mit ihren Frauen und Kindern, einer der beiden bereits seit fünfzehn Jahren, als undokumentierte Einwandererfamilien, das heisst: krankenversichert und schulpflichtig, aber ohne Aufenthaltsbewilligung.
Der Fokus der Architektin verlagerte sich. Nun ging es erst einmal darum, den Familien ihr Heim zu erhalten. Graham beschloss, die Planung für den eigenen Alterssitz hintanzustellen und stattdessen eine Art Altersheim für Pferde zu gründen. Der Unterhalt, den die Besitzer für einen schönen Lebensabend ihrer Tiere bezahlten, sollte für das Auskommen der Arbeiterfamilien und die Bewirtschaftung des Landes sorgen. So gelang ein Businessmodell, dessen Bilanz am Ende immer ausgeglichen sein sollte und bis heute ist. Graham arrangierte die verschiedenen Stallmodule neu und machte sich daran, im Selbststudium und mithilfe des Know-hows der mexikanischen Arbeiter die Ranch in einen funktionsfähigen Bauernhof zu verwandeln.
Geschlossene Kreisläufe
Es folgte eine Reihe von Selbstversuchen in ökologisch nachhaltigem und kostengünstigem Bauen. Hierbei griffen Graham und Angélil auf Erkenntnisse zurück, die sie mit ihrem Architekturbüro «agps architecture», das sie bis heute gemeinsam mit ihrem Gründungspartner Manuel Scholl in Los Angeles und Zürich betreiben, gesammelt haben.
Als Erstes sollte das gesamte Grundstück als Ressource verwendet werden. Hierfür musste zunächst die Wasserversorgung gesichert und mussten effiziente Wasserkreisläufe eingerichtet werden. Im von immer verheerenderen Dürren geplagten Kalifornien galt es, jeden Tropfen Wasser zu sammeln, zu speichern und effizient zu nutzen. Regenwasser wird in Erdlöchern und Zisternen aufgefangen und in ein Grundwasserleitsystem eingespeist, über das das gesamte Gelände bewässert wird. Eine 150 Meter tiefe Wärmepumpe reguliert den Temperaturhaushalt der Gebäude. Sämtlicher Strom wird von Photovoltaikanlagen generiert. Die Ranch verfügt über ein eigenes Abwassersystem und eine nicht geringe Anzahl Komposthaufen. Der reichliche Pferdemist sorgt für reges Wachstum aller möglichen Pflanzenarten. All das ist alles andere als üblich in Kalifornien. Grossteils hinkten den Konstruktionen sogar die Energieeffizienzgesetze hinterher, was zur Folge hatte, dass die zuständigen Beamten nicht wussten, wie sie sie einstufen oder genehmigen sollten.
Von Anfang an galt das Credo, die Farm nur für den Eigenbedarf zu bewirtschaften. «Angebaut wird nur Essbares, nur das, was von Mensch und Tier verzehrt wird», erklärt Graham, «zuallererst Heu, viele Arten Gemüse wie Gurken, Zucchini, Tomaten und Salate, verschiedenste Obstsorten, Äpfel, Pfirsiche, Pflaumen, Aprikosen, Kirschen, Erdbeeren, Zitrusfrüchte, Oliven, Beeren, Nüsse, Wein und so weiter. Es war ein grosses Abenteuer. Vieles habe ich mir über das Internet selbst beigebracht und dann im Trial-and-Error-Verfahren langsam umgesetzt.»
Heute leben also vier erwachsene Mexikaner, drei Teenager, zwei Kleinkinder und zwei vermeintlich pensionierte Architekten in harmonischem Einklang mit der Natur von den Erträgen der Farm. Jeglicher Überschuss wird gespendet. Man sieht es zwar nicht sofort, wenn man durch die gesättigte Landschaft mit ihren Wohlstandsvillen und Luxusboutiquen fährt, aber über zwanzig Prozent der Bevölkerung im Landkreis lebt an der Armutsgrenze und ist von Ernährungsunsicherheit und Obdachlosigkeit bedroht. Das waren aber erst die Zahlen vor der Corona-Krise. Die örtliche Organisation Veggie Rescue sammelt übrig gebliebene Lebensmittel und verteilt sie an Bedürftige, oft an illegal eingewanderte, auf deren Arbeit die Massenagrarindustrie Kaliforniens beruht.
Experiment mit der Einfachheit
Dieses organische, sinnvolle Zusammenwirken von Mensch, Tier und Natur ist ein zugleich beruhigendes und anregendes, vor allem aber modernes Bild. Graham schwärmt vom intensiven Geschmack der selbst angebauten Erdbeeren, die hier ganzjährig wachsen. Sie haben mit den herzförmigen, knallroten Erdbeeren der Firma Driscolls, die man hier in allen Bio-Supermärkten kaufen kann, wenig gemeinsam. In Laboren trimmt der weltgrösste Beerenproduzent seine Erdbeeren genetisch auf ein perfektes, uniformes Äusseres. Innen sind sie weiss und schmecken nach Wasser. Was auf der Refugio Ranch wächst, regt alle Sinne an, auch auf der Zunge.
Das erste Experiment war im Wesentlichen eine Übung in nachhaltiger Infrastrukturplanung, in der die natürlichen Material- und Energiekreisläufe so optimal wie möglich kanalisiert werden sollten. Im zweiten Experiment ging es dann um die Frage: Wie billig kann man bauen? «Früher wussten wir, wie viel beispielsweise eine Toilette kosten sollte. Eine zuverlässige um die 500 Dollar. Aber jetzt wissen wir das nicht mehr. Mit dem Internet, Lagerverkäufen und chinesischen Produkten wissen wir einfach nicht mehr, wie viel wir wirklich für Toiletten, Wasserhähne oder Lampen bezahlen sollen», erklärt Graham.
Ziel war es, einen der verlassenen Pferdeställe so günstig wie nur irgend möglich in ein Wohn- und Atelierhaus zu verwandeln. Als Erstes erstellte Graham ein Inventar aller noch auf dem Grundstück befindlichen Werkstoffe und Gegenstände. Alles Brauchbare sollte wiederverwendet werden. Dann verbrachte sie zwei Jahre damit, die kostengünstigsten Materialien der regionalen Industrie- und Agrikultur-Bauausrüster zu recherchieren. Sie legte einen umfangreichen Katalog mit billigen, ökologisch nachhaltigen und ethisch vertretbaren Produkten an. So wurden beispielsweise alte Stalltüren mit rezyklierten, gewellten Glasfaserplatten bekleidet und als Schiebepaneele entlang der äusseren Fassade wiederverwertet.
Isoliert wurde mit raschelnden Vorhängen aus Silberfolie, die gewöhnlich in Gewächshäusern oder als Rettungsdecke Verwendung fand. Die selbstentworfenen Möbel auf Rollen sind aus simplem Sperrholz. So kann man zum Beispiel zwei Tische zu einem Bett zusammenschieben, Matratze drauf, fertig. Die Schubladen im Badezimmer sind einfache Pappkartons. Kostenpunkt: 50 Cent. Das Projekt ist unter dem Namen «99¢ Space» – eine Anlehnung an die berühmten Discounter «99¢ only Stores» – mehrere Male in Europa ausgestellt worden.
Das dritte Experiment, das eigentliche Wohnhaus, ist das Resultat der Experimente eins und zwei. Es vereint den technologisch fortschrittlichen und nachhaltigen Einsatz der Energiekreisläufe mit der Verwendung kostengünstiger, umweltschonender Baumaterialien. Die minimalistische Konstruktion aus Stahl, Beton, Holz und Glas verfügt über einen Wohnbereich, ein Schlaf- und Arbeitszimmer und ein integriertes Gästehäuschen.
Die Wohnräume sind bescheiden, fast spartanisch, klar und transparent. Unter einem schräg abfallenden Wellblechdach greifen auf zwei Ebenen Innen- und Aussenräume ineinander. Eine Teilfassade aus perforiertem Metall umschirmt das obere Stockwerk. Schlanke Säulen stützen die einzelnen Module. Wohnkuben aus Glas und ungestrichenen Zementplatten bilden die eigentlichen Baukörper. Die Baumaterialien sind funktional, lokal gefertigt und in manchen Fällen, wie das Stahltragwerk beispielsweise, über neunzig Prozent rezykliert. Die Ranch operiert vollständig selbstversorgend: Dank eigener Strom- und Wasserversorgung und eigenem Abwasser- und Klärsystem ist sie autark. Alles in allem verstehen Graham und Angélil das gesamte Areal als ein zukunftsweisendes Ökosystem, in dem modernste Technik und Natur sich wechselseitig bedingen und ergänzen. Ein Gegenbild zu altmodischen Klischees vom idyllischen Landleben.
Die amerikanisch-schweizerische Ranch in ihrer Stahl-Glas-Konstruktion macht eine elegante Figur, fast wie eine zeitgenössische Fortsetzung der kalifornischen «Case Study Houses», doch vor allem verstehen die Architekten ihre berufliche Aufgabe in der verantwortungsvollen Kombination ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Fragestellungen. Als Nächstes wollen sie sich Mobilheime vornehmen. Sie arbeiten bereits an nachhaltigeren und lebenswerteren Entwürfen, die zugleich für die Massenproduktion tauglich sind. Angélil wird das Thema nächstes Jahr intensiv in einem Workshop mit Studenten der Harvard-Universität untersuchen. So viel zum Ruhestand. Graham hat bereits Pläne gezeichnet.
Nana Demand Bahlmann ist freischaffende Kuratorin und Autorin und lebt in Berlin und Los Angeles. Von 2010 bis 2016 arbeitete sie am LACMA, heute als freie Kuratorin, zuletzt im Auftrag des Festivals «Weimar Variations» für die Los Angeles Philharmonic, das im Februar 2020 an mehreren Institutionen in Los Angeles stattfand.